Angriff oder Flucht

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Wie sich Verhalten unter Stress radikalisiert

Stress ist Anspannung, die positiv oder negativ wirken kann. Positiv wirkt Anspannung, wenn sie zu angenehmer und produktiver Aktivität führt, negativ wirkt sie, wenn sie angenehme Aktivitäten und die Leistung beeinträchtigt.

Stress ist die Verbindung von Anspannungsfaktoren – Stressoren – mit
psychisch-physischen Auswirkungen.

Welche und wie viele Anspannungsfaktoren Stress auslösen, ist abhängig von der individuellen Disposition einer Person, ihrem Verhaltensprofil und ihrer aktuellen Situation.

Wenige Stressoren mit geringer Wirkungsstärke empfinden die meisten Menschen als komfortabel, sie fühlen sich mit ihnen in ihrer Komfortzone. Umgangssprachlich bezeichnen sie die Situation gemeinhin als „stressfrei“.

Mehr oder stärkere Stressoren führen Menschen zunächst in ihre Kompromisszone. Leistungs­anforderungen sind mit ihnen noch erfüllbar, wenn auch die Situation nicht mehr als gemütlich empfunden wird. Umgangssprachlich ist dann die Rede von „kaum“, „ein bisschen“  oder nur von „Stress“.

Werden die Stressoren zu zahlreich oder zu mächtig, rutschen Menschen in ihre Panikzone: Ihre Leistungen nehmen rapide ab, ihre Fehlerquote steigt, sie werden misslaunig und ungerecht. Manche werden aggressiv, andere ziehen sich zurück. Spätestens jetzt bezeichnen sie ihre Situation als „ultrastressig“, „katastrophal“ oder ähnlich. Dauert die überstarke Belastung länger an, werden sie womöglich krank – paralysiert, leistungs- und handlungsunfähig.

Eu-Stress und Dis-Stress

Ist die Anzahl der Stressoren oder ihre Intensität nur gering, ermöglichen oder steigern sie die Leistungsfähigkeit. Die Anspannung wird als Eu-Stress erlebt – in der Komfortzone und der Kompromisszone. Mit zunehmender Stärke oder Häufigkeit der Stressoren steigt die Leistungsfähigkeit – und bleibt zunächst in der Kompromisszone. Bei Erreichen einer kritischen Stärke, beim Übergang in die Panikzone, fällt die Leistungsfähigkeit abrupt ab und kann sich bis zur Unfähigkeit, produktiv zu handeln, entwickeln. Ein zu niedriges Stressniveau verhindert hohe Leistungsfähigkeit, ein zu hohes Stressniveau hat das gleiche Resultat.

Eu-Stress – euphorisierender Stress – ist der innere Antrieb eines Menschen, etwas zu tun, das für ihn lohnend, nützlich oder sinnvoll ist. Bei wachsender innerer Anspannung steigen Leistungsfähigkeit und Produktivität.

Wenn Menschen geringen Stressoren ausgesetzt sind oder sie selbst erzeugen, sind sie im Eu-Stress mit sich im Einklang. Zu hohe Anspannung mündet im Dis-Stress.Der Übergang vom Eu-Stress zum Dis-Stress findet sich bei jeder Person woanders und verschiebt sich mit den aktuellen situativen Umständen.

Dis-Stress – zerstörerischer Stress – bezeichnet die Belastung, in der die innere Anspannung eines Menschen seine Leistungsfähigkeit und Produktivität einschränkt, bis die Stressreaktionen für ihn unerträglich werden.

Verhalten unter Dis-Stress

Bei Dis-Stress werden die Verhaltensprofile noch deutlicher sichtbar als unter geringer Anspannung. Wird der Dis-Stress erreicht, handeln Menschen nahezu ausschließlich emotional und tendieren zu zwei Verhaltensweisen: Angriff oder Flucht.

Stärker bestimmende Menschen zeigen bei Dis-Stress eher Angriffsverhalten.

Expressive werden unter Dis-Stress zu tobenden Angreifern. Sie regulieren ihre übergroße Anspannung, indem sie versuchen, andere durch Emotionen unter ihre Kontrolle zu bringen – manchmal auch laut und unkontrolliert, zum Beispiel so:

  • „Wenn ich Ihre Arbeit nicht bis morgen habe, werden Sie hier keine ruhige Minute mehr haben.“

Macher werden unter Dis-Stress zu energischen Autokraten. Sie bringen ihre übergroße Anspannung unter Kontrolle, indem sie andere mit Fakten, Logik und Verstand bedrängen, zum Beispiel so:

  • „Bis morgen Nachmittag ist diese Arbeit fehlerfrei bei mir auf dem Schreibtisch.“
Weniger bestimmende Menschen zeigen bei Dis-Stress eher Fluchtverhalten.

Verbindliche geben unter Dis-Stress zu nach. Sie regulieren ihre übergroße Anspannung, indem sie einlenken, zum Beispiel so:

  • „Um des lieben Friedens willen erledige ich das auch noch.“

Analytiker weichen unter Dis-Stress aus. Sie steuern ihre übergroße Anspannung, indem sie ihre Kontakte mit anderen begrenzen. Sie äußern sich dann zum Beispiel so:

  • „Ich werde alles versuchen, um diesen Termin einzuhalten.“

Empathische Hinwendung

[1]Das Verhalten von Expressiven und Machern signalisiert überdeutlich, wann sie unter Dis-Stress stehen. Darauf angemessen zu reagieren verlangt situative Resilienz und ausgeprägte empathische Hinwendung.

Falsch wäre, ihnen in der gleichen aggressiven Weise zu begegnen. Besser ist stattdessen, ihnen aufmerksam und aufgeschlossen mit ermunternden Kommentaren zuzuhören, damit sie sich abreagieren können. Eine zugewandte Körperhaltung und fester Blickkontakt mit verstehendem Nicken können unterstützend wirken.

Hilfreich ist, Anteil an ihrer Erregung zu nehmen, Mitgefühl zu signalisieren und ihre persönlichen Gründe für ihre Gereiztheit zu akzeptieren. Die Anteilnahme billigt nicht ihr Verhalten, sondern zeigt ausschließlich das Interesse an ihrer Situation.

Die Situation entschärfen kann manchmal, die Gründe für ihre Anspannung herauszufinden und zu verstehen, vielleicht sogar zu helfen, durch Fragen zu ihrer Situation selbst mehr Klarheit zu gewinnen.

Wenn ihnen bewusst geworden ist, was zu ihrer Erregung geführt hat, kann mit ihnen, sofern sie dazu bereit sind, nach Lösungen dafür gesucht werden. Eigene Gedanken, Ideen und Vorschläge zu den Ursachen lassen sich mit ihnen diskutieren. Manchmal zeigen sie sich dankbar, wenn sie Unterstützung angeboten bekommen.

[2]Bei Verbindlichen und Analytikern ist oft kaum wahrnehmbar, wann sie unter Dis-Stress stehen, ihr Verhalten verändert nur unwesentlich. Verbindliche werden innerlich unruhig und geben nach, ohne überzeugt zu sein. Analytiker ziehen sich zurück und sagen immer weniger. Empathische Hinwendung kann zur Entspannung beitragen.

Entlastend können Fragen wirken: was verkehrt gelaufen ist, wer zu ihrer Verstimmung beigetragen hat und wodurch. Sie brauchen das Gefühl, Sorgen oder Kritik äußern zu können. Eine Aufforderung zum Sprechen kann ihnen dafür den Impuls geben.

Da weder Verbindliche noch Analytiker besonders risikofreudig sind, benötigen sie wohlmeinende Versicherungen, bevor sie sich zu ihrer Situation äußern.

Weil für Verbindliche wichtig ist, dass ihre Beziehungen zu anderen Menschen nicht gefährdet werden, wenn sie ihre Meinung sagen, und sie nicht möchten, dass jemand ihnen böse ist oder ihnen Nachteile entstehen, wenn sie sich offen und ehrlich äußern, brauchen sie starke Signale diskreten und redlichen Interesses an ihnen, ihrer Meinung, ihrer Anspannung, um ihre Befürchtungen zu überwinden.

Analytiker äußern sich zu ihrer Anspannung, wenn sie den Eindruck haben, sie werden angemessen respektiert und gewürdigt. Sie brauchen die Versicherung, jemand setzt sich ernsthaft mit ihrer Meinung und ihrer Situation auseinander.

Dis-Stress radikalisiert die Verhaltensprofile, verstärkt die Verhaltenstendenzen. Wer seine Neigungen, wie er sich unter zu viel Stress verhält, kennt, kann sich bewusst gegen die Radikalisierung wehren – durch das Reduzieren der Anspannungsfaktoren oder durch rationales Einwirken auf seine emotionalen Impulse. Wer bei anderen Auswirkungen von Dis-Stress erlebt, kann versuchen, allzu stark radikalisiertes Verhalten zu mindern – empathisch und dem Verhaltensprofil entsprechend.

Peter Hilbert

Quelle

[1][2] Wilson Learning