Argumentation

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Ein erkenntnisreicher Weg zur Wirklichkeit

Der aus dem Lateinischen entlehnte Begriff „Argumentation“ wird gerne mit „Beweis­führung“ ins Deutsche übersetzt. Nach dieser Definition sind an der Argumentation mindestens zwei Personen beteiligt: jemand, der beweisen will, und jemand, dem etwas bewiesen wird. Und Kommunikation ist notwendig, um beweisen zu können. Das kann auch intrapersonal geschehen, in einem inneren Dialog.

Nicht in jeder Kommunikation wird argumentiert, weil nicht immer Gründe angeführt werden, die als Argumente dienen sollen oder als Nachweis der Wahrheit oder Falschheit einer Behauptung. Wenn zum Beispiel jemand von Erlebnissen aus seinem Urlaub erzählt, argumentiert er nicht, auch nicht wenn er seine Empfindungen beim Betrachten eines Gemäldes beschreibt oder wenn er berichtet, was er oder andere tun oder getan haben. Wer eine Unterhaltung führt, argumentiert nicht. Argumentation ist also eine spezielle Form der Kommunikation.

Argumentiert wird in Überzeugungsgesprächen, wenn jemand einen anderen bewegen will, sich in gewünschter Weise zu verhalten oder etwas Beabsichtigtes zu denken. Argumentiert wird auch in Klärungsgesprächen, wenn es gilt, ein Thema fundiert zu behandeln. Entweder stehen Menschen oder Sachverhalte im Fokus der Argumentierenden.

Argumentation ist beim Überzeugen und Klären sicher nicht mit bloßer Beweisfüh­rung identisch. Ein Gesprächspartner kann überzeugt worden sein, ohne eine vor­getragene Beweiskette völlig nachvollzogen zu haben. Ein anderer Gesprächs­partner mag einen Beweis akzeptieren und dennoch seine Meinung nicht ändern. Oder in einem Klärungsprozess können alle Beweise ausgetauscht worden sein und dennoch wurde kein Konsens erzielt – außer allenfalls der Einigung, dass weiter Dissens herrscht.

Die lexikalische Definition von Argumentation bezieht die Beweisführung auf die Absichten der Argumentierenden und auf die Klärung von Themen, sie stellt die Argumentation in historischen und wissenschaftlichen Kontext und verweist auf Zusammenhänge mit der Logik.

Argumentation – mehr als Beweisführung [1]

Argumentation ist Beweisführung mit dem Ziel, die Zustimmung oder den Wider­spruch wirklicher oder fiktiver Gesprächspartner zu einer Aussage oder Norm durch den schrittweisen und lückenlosen Rückgang auf bereits gemeinsam anerkannte Aussagen oder Normen zu erreichen.

Die Argumentationstheorie bezieht sich auf Rhetorik und Topik und wendet sich heute wieder den Argumentationsweisen zu, die keine eigentlichen Beweise darstellen.

Argumentation bezieht sich auf die Klärung von Sachverhalten, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten des theoretischen Hintergrunds:

1.  Stephen Toulmin vertritt die These, die moderne Logik als Theorie des analytischen Argumentierens sei nur ein Spezialfall des Argumentierens neben dem substanziellen Argumentieren, das unter anderem in die Schlüsse neue, nicht logisch deduzierte Informationen aufnimmt.

2.  Chaim Perelman formuliert unter dem Titel „Neue Rhetorik“ die Theorie, in institutionellen Argumentationskontexten sei die Triftigkeit eines Arguments nicht allein von seiner logischen Struktur abhängig, sondern wesentlich auch vom Zustimmungsverhalten eines Auditoriums.

3.  Jürgen Habermas entwickelte die Theorie des argumentativen Diskurses, in dem die Argumentierenden etwas Gemeinsames aus seinen Teilen aufbauen, indem sie im Gespräch von einer Vorstellung zur anderen logisch fortschreiten.

Argumentation will mehr als nur beweisen. Sie will einerseits bei anderen etwas bewegen, zum Beispiel deren Zustimmung oder Widerspruch erhalten, sie will andererseits Gedanken mit anderen weiterentwickeln. Argumentation ist ein nicht wirkungssicherer Prozess.

Argumentation zum Überzeugen

ArgumentierenArgumentation auf die Beweisführung zu redu-
zieren, verführt, sich einen aktiven und einen passiven Part in der Kommuni­kation vorzustellen. Der eine spricht, der andere hört zu. Der Argu-mentierende bleibt bei seiner Sichtweise und der an­dere ändert seine Sichtweise. – Das Bild, ein Proponent argumentiert mit einem Opponenten, mag einige Überzeugungs- und vielleicht sogar Klärungssituationen illustrieren, jedoch sicher nicht alle.

Beim Prozess der Argumentation zum Überzeugen ist nicht das Thema das Ziel, son­dern der Mensch, wobei der Argumentierende in der stärkeren Rolle zu sein scheint. So argumentiert der Experte mit dem Laien, damit der Laie verstehe, was der Exper­te bereits weiß. So argumentiert der Verkäufer mit dem Kunden, damit der Kunde das kaufe, was dem Verkäufer vorschwebt. So argumentiert der Wissende mit dem Weniger-Wissenden, auf dass dieser zu der Einsicht komme, die der Wissende bereits hat.

Rollentausch ist bei der Argumentation zum Überzeugen möglich; der Argumen­tationspartner kann zum Argumentierenden werden. Der Proponent wird dann im Überzeugungsprozess scheinbar zum Opponenten und der Opponent wird scheinbar zum Proponenten –scheinbar, weil das Verhältnis zwischen beiden sich nicht ändert. Der andere erschwert dem Argumentierenden dessen Überzeugungsverhalten mit Gegen­argumenten, indem er dem Argumentierenden vermittelt, warum dessen Argumente nicht plausibel erscheinen oder welche Argumente er selbst hat. Doch dadurch wird der Laie nicht zum Experten, der Kunde bleibt Kunde und der Weniger-Wissende wird den Wissenden nicht überzeugen. Die Argumentation zum Überzeu­gen bleibt disparitätisch.

Im Gegensatz zur Argumentation zum Überzeugen ist die Argumentation zum Klären grundsätzlich paritätisch. Beim Klären tauschen sich die Argumentierenden zu einem Thema aus. Sie leisten einen Beitrag zum Thema, zwar womöglich mit der Absicht zu überzeugen, allerdings auch mit der Bereitschaft, sich überzeugen zu lassen. Alle an der Argumentation Beteiligte sind in der Rolle von Experten, von mehr oder weniger Wissenden. Vielleicht beteiligen sie sich nicht alle in gleichem Maße an der klären­den Argumentation, doch eventuell unterschiedliche Beteiligungen ändern nichts an der paritätischen Rolle der Argumentierenden, die etwas klären wollen.

Argumentation zum Klären

Argumentation 01Argumentation, die klären und erkennen will, ist eine kommunikative Handlung, bei der die Beteiligten nicht gegeneinan­der ringen, sondern um ein Ergebnis. Solche Argumentation ist Kommunika­tion, um zu überzeugen, mit der Bereit­schaft, sich überzeugen zu lassen. Sie beabsichtigt, ein von allen Beteiligten akzep-tiertes Ergebnis zu erhalten, das auch Nicht-Beteiligte akzeptieren können.

Das Ziel der Argumentation zum Klären geht über die Beteiligten hinaus. Ihr Ziel ist abstrakt, die Beteiligten sind nur notwendige Mittel, die das Ziel anstreben. Ihr Ziel ist die thematische Klärung, der Konsens, oder gar Erkenntnis.

Argumentation zum Klären ringt um ein gemeinsam erarbeitetes Ergebnis, wofür Argumente ausgetauscht werden. In die Argumentation zum Klären bringen die Beteiligten eigenes Wissen, eigene Fähigkeiten, eigene Bereitschaft paritätisch ein und streben danach, zu verstehen und verstanden zu werden. Argumentation zum Klären ist Kommunikation, die zu einem gemeinsamen Ergebnis führen soll, an dem die an der Argumentation Beteiligten mitgewirkt haben.

Mit Argumentation zur Wirklichkeit [2]

WirklichkeitWenn Menschen miteinander argumentieren, verhalten sie sich wie Weber, die gemeinsam an einem Tuch wirken. Mal um Mal gibt jeder – quer oder längs – seinen Faden ein. (Das muss nicht immer ein roter Faden sein). Jeder gibt seine Gedanken dazu. Vielleicht gibt ein Argumen-tierender nur ein Fädchen, ein anderer schon einen Faden und wieder ein anderer ein wohl-gedrehtes Seil. Vielleicht kommen Argumente zur Sprache, deren Fäden später wieder entfernt werden. Doch egal wie groß und bedeutend die einzelnen Anteile sind, sie wirken alle zusammen und ergeben ein gemeinsames Tuch. Dieses Tuch heißt, weil alle an ihm wirken: Wirklichkeit. Und an dieser Wirklichkeit arbeiten die Argumentierenden.

Natürlich ist das Tuch der Wirklichkeit niemals zu Ende gewirkt. Denn es ist nur ein Ideal-Bild. Ein Bild, das aus einer Idee geboren wurde. Diese Idee gilt für die Argumentation als Leitbild, um über das Wirken des miteinander Argumentierens zur Klärung der Wirklichkeit zu kommen.

Argumentation lässt sich nutzen, um mit anderen Argumentierenden die eigene Wirklichkeit zu erweitern, das eigene Wissen zu vergrößern, zu verändern oder vielleicht auch nur zu bestätigen. Argumentation ist vernünftige Kommunikation, die nach Wahrheit strebt und dazu idealerweise Parität für die Rollen der Beteiligten voraussetzt. Sie nutzt bisweilen Beweisführung als eine Möglichkeit des Wirkens.

Mit Argumentation zu gemeinsamer Meinung [3]

In einer vernünftigen Argumentation sind alle Beteiligten gleichberechtigt und haben gleichen Zugang zu allen Informationsquellen. Sie sind keiner Rede­begrenzung und keinem Zwang ausgesetzt. Über das miteinander Argumentieren müssten sie zu einer gemeinsamen Meinung kommen.

Vernunft und Wahrheit haben ihre größte Chance, wenn Vernunft und Wahrheit als oberste Prinzipien walten und nicht Macht und Stärke.

Vernünftige Argumentation will nicht bloß die Meinung eines Einzelnen oder einer Gruppe ändern beziehungsweise zu einem beabsichtigten Handeln bewegen, sondern vor allem mit anderen Argumentierenden Erkenntnisse gewinnen. Vorhan­dene Erkenntnisse fließen in die Argumentation ein und führen im Zusammenwirken zu neuen Erkenntnissen.

Vernünftige Argumentation gibt der Kommunikation einen Sinn, der sich auf die Argumentierenden und das Thema bezieht und sie einschließt. Sie begreift Kommunikation als Methode der geistigen Weiterentwicklung.

Mit Argumentation zu Erkenntnissen [4]

Der Sinn des Argumentierens ist ein geistiges Ringen um höhere Erkenntnisse, eine Auseinandersetzung verschiedener Meinungen, ein Angleichen von Gegensätzen, ein Versuch zum Zweck einer gemeinsamen Willensbildung.

Argumentation kann überzeugen und sie kann klären. Die Argumentierenden ent­scheiden, mit welcher Absicht sie Argumentation einsetzen: ausschließlich um Menschen zu bewegen oder um mit Menschen zu Erkenntnissen zu gelangen. Die Argumentierenden entscheiden, ob und mit wem sie vernünftig argumentieren wollen.

Peter Hilbert

[1] Quelle: Brockhaus Enzyklopädie
[2] Quelle: Freyr Roland Varwig
[3] Quelle: Werner Schmidt-Faber. Richtig argumentieren
[4] Quelle: Heinz Elertsen. Moderne Rhetorik