Kontroversen

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Sich auseinandersetzen im Disput

Auseinandersetzungen verlaufen nicht ausnahmslos vernünftig. Oft genug scheitert der argumentative Diskurs im offenen oder verdeckten Streit. Die gemeinsame Suche nach Wahrheit oder nach Einigung misslingt, wenn Emotionen die Vernunft überlagern, wenn Kommunikationsgepflogenheiten unversöhnlich aneinander reiben, wenn das Streben nach Macht den respektvollen Umgang miteinander verdrängt, wenn Vorurteile den verständnisvollen Austausch unmöglich machen, wenn Polemik kein Wohlwollen erkennen lässt. Der Disput endet dann womöglich mit dem Abbruch der offenen Kommunikation – und wird vielleicht mit anderen Mitteln weitergeführt.

Damit eine Auseinandersetzung nicht weiter eskaliert, kann die Unterstützung oder die Vermittlung durch eine dritte Instanz ein Ausweg sein: beispielsweise der Rat eines Freundes, Kollegen oder Mentors, das Einschalten eines Mediators, das Aufarbeiten in einer Paartherapie, das Delegieren der Kommunikation an andere Personen, der Gang vor Gericht. Wenn aber externe Hilfe nicht gewollt ist oder in der aktuellen Situation unmöglich scheint – etwa in Verhandlungen, in der Politik, in der Gremienarbeit –, bleibt noch die eigene Anstrengung, um einen Disput in konstruk­tive Bahnen zu lenken.

Vom Argument zur Behauptung

Wer eine verfahrene Kontroverse selbst wieder zum vernünftigen Diskurs führen will, braucht Geduld, Gelassenheit und analytische Fähigkeiten, braucht die Bereitschaft, in Kleinigkeiten großzügig zu sein. Er fasst die Äußerungen seiner Mitdisputanten auf als Behauptungen, also als Wahrheit beanspruchende Sprechakte, oder als Schlussfolgerungen aus noch zu ergründende Gedanken oder als Thesen, die zu untersuchen sind, und nicht etwa als Angriffe oder Ausflüchte, als Lügen oder Dummheiten, als Verrücktheiten oder Zynismen, auch wenn sie ihm vielleicht weiterhin so erscheinen. Um der Vernunft eine Chance zu geben, schenkt er ihnen seine Aufmerksamkeit, sein Interesse, seinen skeptischen Glauben.

Wer eine Behauptung aufstellt, erhebt Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit und auf unseren Glauben.[1]

In Auseinandersetzungen Äußerungen als Behauptungen aufzufassen ermöglicht, Souveränität zu gewinnen und nach den Argumenten für eine Behauptung zu fragen:

  • Nach den Voraussetzungen, die im Ergebnis zu der Behauptung geführt haben
  • Nach Informationen, die die Behauptung begründen
  • Nach Beweisen, aus der die Behauptung als Schlussfolgerung resultiert
  • Nach den Bedingungen für die Behauptung

Die Suche nach Argumenten enthält auch in Kontroversen die Chance, Zusammenhänge zu erkennen, Unverständliches zu klären, Widersprüchliches zu aufzulösen, Ärgernisse zu beseitigen, inadäquates Verhalten zu verändern, weil sie die Beteiligten einbindet, weil sie die Kommunikation weiterführt, weil sie rational und emotional bewegt.

Ein Argument nennt einen Grund für eine Behauptung. Wenn das Argument nicht überzeugt, können weitere Argumente die Behauptung bekräftigen. Das Anführen von Argumenten, den Voraussetzungen, den Informationen, der Umstände, die zu einer Behauptung führen, offenbart den Gedankengang, der zu einer Behauptung geführt hat, oder die Absicht, die mit der Behauptung verfolgt wird. Das Erhalten von Argumenten vermittelt Einsicht in die Denkweise des Argumentierenden und wer Argumente erhält, kann sie für seine Gedanken verwenden.

Voraussetzung, um nach Argumenten zu fragen, ist, eine Äußerung nicht als unumstößliche Wahrheit, nicht als hinzunehmende Information, sondern als Behauptung zu interpretieren. Nach Argumenten zu suchen ist eine spezielle Form der Interpretation, die ohnehin zu jedem Prozess des Verstehens gehört. Die Interpretation einer Äußerung als Behauptung verweist auf die Vermutung ihres Wahrheitsgehalts. Die Interpretation gewichtet die Wahrscheinlichkeit der Behauptung, indem sie die Aussage mit einem logischen Operator modifiziert, den sie als Modaladverb formuliert: Eine Äußerung wird erkennbar zu einer Behauptung, wenn sie beispielsweise mit „sicher“, „wahrscheinlich“, „möglicherweise“, „vielleicht“ oder „nicht zutreffend“ ergänzt wird.

Die Interpretation, formuliert mit einem Modaladverb als Operator, offenbart die Relevanz der Behauptung. Sie schränkt den Wahrheitsanspruch der Behauptung ein, weitet ihn aus oder bestätigt ihn. Sie ist Bedingung, um nach Argumenten zu suchen und nach einer Regel, die ein Argument mit der Behauptung verbindet.

Manche Behauptungen erscheinen so schlüssig, dass Modaladverbien wie „notwendigerweise“, „evident“ oder „zwingend“ ihre Interpretation beschreiben. Andere Behauptungen scheinen nur „denkbar“, „eventuell“ oder „kaum“ schlüssig und ihre Interpretation begrenzt mit den entsprechenden Einschränkungsoperatoren ihren Wahrheitsanspruch.

Die Interpretation lässt einen emotionsüberlagerten Streit zu einer rationalen Argumentation mutieren: Ein Argument hat oder mehrere haben einen Mitdisputanten zu einer Behauptung geführt, der sich der Hörer anschließen kann oder nicht. Unabhängig von der rhetorischen Finesse, mit der eine Äußerung formuliert ist, und der Nachdrücklichkeit, mit der sie vorgetragen wird, enthüllt ihre Würdigung als Behauptung die Interpretation ihres Wahrheitsgehalts und eröffnet die Möglichkeit, nach Argumenten zu fahnden.

Mit der Einführung eines Modaladverbs eröffnet die Interpretation die logische Perspektive: Behauptung und Argument sind zwei Aussagen – Propositionen –, die durch eine explizite oder interpretierte Konjunktion zu einer mehr oder weniger plausiblen Schlussfolgerung werden.

  • Ein Argument kann und soll die Interpretation des Wahrheitsgehalts einer Behauptung positiv beeinflussen, damit die Behauptung akzeptabel wird.

Um die interpretierte Wahrheit der Behauptung zu bestätigen oder zu widerlegen oder zu verändern, kann die Person, die sie geäußert hat, ihr Argument, das sie zu ihrer Behauptung geführt hat, von sich aus nennen oder der Hörer kann danach fragen. Durch das Offenlegen des Arguments kann in kontroverser Kommunikation die Plausibilität der Argumentation deutlich werden.

Die Frage nach dem Argument fördert die Konstruktivität, weil sie in der Kontroverse Konstruktivität vom Mitdisputanten fordert und ihn verleitet, seine Gedanken als Argument mitzuteilen, um verstanden zu werden. Auch eine verfahrene Auseinandersetzung kann durch Fragen sich wieder zu einem vernünftigen Dialog entwickeln[2], zum Beispiel durch eine Frage wie:

  • „Wie kommen Sie zu Ihrer Äußerung?“
  • „Was ist der Grund dafür?“
  • „Sind Sie sicher?“
Beispiel 1[3]:
  • Behauptung:
„Harry ist britischer Staatsbürger.“
  • Interpretation:
„Harry ist vermutlich britischer Staatsbürger.“
  • Frage:
„Wie kommen Sie darauf, dass Harry britscher Staatsbürger ist?“
  • Argument:
„Harry wurde auf Bermuda geboren.“

 

Beispiel 2[4]:
  • Behauptung:
„Ich weiß zwar nicht, wo sie sind, aber ich habe zwei Arbeitsverträge.“
  • Interpretation:
„Ich habe, soweit ich mich erinnere, zwei Arbeitsverträge.“
  • Frage:
„Weshalb hast du zwei Arbeitsverträge?“
  • Argument:
„Ich habe ja auch zwei Arbeitgeber.“

 

Beispiel 3:
  • Behauptung:
„Die Entscheidung muss ich in meinem Gremium besprechen.“
  • Interpretation:
„Die Entscheidung muss ich vorgeblich in meinem Gremium besprechen.“
  • Frage:
„Wieso müssen Sie die Entscheidung in Ihrem Gremium besprechen?“
  • Argument:
„Ich darf mich jetzt nicht festlegen.“

Die Frage gibt einen Impuls, ein Argument zu nennen, doch die Wahl des Arguments obliegt dem Argumentierenden. Er könnte seine Behauptung auch mit einem oder mehreren anderen Argumenten begründen. Welchen Grund der Antwortende auch anführt, er signalisiert durch sein Anführen seine Bereitschaft oder gar sein Interesse, die Kommunikation weiterzuführen.

Beispiel 1:
  • Interpretation:
„Harry ist vermutlich britischer Staatsbürger.“
  • Argument:
„Harry wurde auf Bermuda geboren.“
  • Variante:
„Das sagt er selbst.“
  • Variante:
„Das sagt seine Mutter.“
  • Variante:
„Ich habe seinen britischen Pass gesehen.“

 

Beispiel 2:
  • Interpretation:
„Ich habe, soweit ich mich erinnere, zwei Arbeitsverträge.“
  • Argument:
„Ich habe ja auch zwei Arbeitgeber.“
  • Variante:
„Sie sind in meinem Dokumentenordner abgeheftet.“
  • Variante:
„Ich erinnere mich jeweils, wie ich sie ausgehändigt bekommen habe.“
  • Variante:
„Der eine ist neun Seiten stark, der andere hat nur einen Umfang von vier Seiten.“

 

Beispiel 3:
  • Interpretation:
„Die Entscheidung muss ich vorgeblich in meinem Gremium besprechen.“
  • Argument:
„Ich darf mich jetzt nicht festlegen.“
  • Variante:
„Das ist eine weittragende Entscheidung.“
  • Variante:
„Ich fühle mich nicht kompetent genug zu entscheiden.“
  • Variante:
„Nicht ich, sondern das Gremium entscheidet.“

Mit seinem Argument verrät er Gedanken, die mit seiner Behauptung assoziativ verknüpft sind. Er lädt ein, sich auf das Argument zu beziehen und weiterzusprechen. Er gibt der Auseinandersetzung eine durch das Argument bestimmte Richtung, Varianten des Arguments würden die Richtung ändern.

Logische Regeln

Mit dem Nennen des ursprünglich vielleicht nur gedachten oder assoziierten Arguments oder einer Variante ist die Auseinandersetzung entweder wieder konstruktiv geworden oder sie ist beendet, weil das Argument beziehungsweise eine Variante akzeptiert wird und in der Folge auch die Behauptung. Die Kommunikation der Beteiligten könnte sich auch weiterentwickeln, wenn die angeführten Gründe nicht plausibel scheinen, also die Interpretation mit ihrem – eventuell variierten – Modaladverb bestehen bleibt. Doch immerhin hätte der Disput die Chance, vernünftig weitergeführt zu werden, obgleich die Auseinandersetzung wahrscheinlich immer noch emotional belastet bliebe.

Das Nennen eines Grundes für eine Behauptung appelliert an die logischen Fähigkeiten, denn die Verknüpfung von Argument und Behauptung – sei sie nur vom Hörer interpretativ oder vom Sprecher explizit hergestellt – entspricht einer formalen Regel, nämlich dem Syllogismus.

Der Syllogismus ist eine Form des logischen Schließens. Er nennt zwei Voraussetzungen, aus denen der Schluss gefolgert wird:

  1. In der allgemeinen Voraussetzung wird von einer bestimmten Menge eine Aussage behauptet.
  2. In der speziellen Voraussetzung wird dieser bestimmten Menge eine Teilmenge zugeordnet.
  3. Der Schluss daraus ist: Die Aussage trifft auch auf die Teilmenge zu,
Beispiel für einen Syllogismus:
1.  Allgemeine Voraussetzung: Alle Menschen sind sterblich.
2.  Spezielle Voraussetzung: Sokrates ist ein Mensch.
3.  Schluss: Sokrates ist sterblich.

Während der klassische Syllogismus ein Instrument formal-logischen Schließens ist, kann seine Erweiterung zur Argumentation substanziell Neues erzeugen, wobei die konkrete Argumentation durchaus im Dreiertakt des Syllogismus verlaufen kann.[5]

Die Ver-knüpfung von Argument und Behauptung ist logisch gesehen die gleiche wie die von spezieller Prämisse und Konklusion. Dazwischen steht die Interpretation als Operator.

Der Syllogismus ist die einfachste Form des logischen Schließens, denn aus nur zwei Voraussetzungen wird nur ein Schluss gezogen. Schlüsse mit mehr als nur zwei Voraussetzungen müssen in mehrere Syllogismen zerlegt werden.

In der Argumentation ist die allgemeine Prämisse eine Regel, die notwendig ist, damit ein Argument die Rolle als Grund für eine Behauptung übernehmen kann. Die Regel bringt Argument und Behauptung in ein logisches Verhältnis zueinander, sie macht die Argumentation zur logischen Schlussfolgerung. Angeführte Informationen werden erst durch die Regel zu Argumenten, erst durch das Zusammenwirken von Behauptung, Argument und Regel entsteht Argumentation.

Auch wenn beim Argumentieren die verbindende Regel nur selten explizit formuliert wird, ist sie immer logisch notwendigerweise vorhanden. Die Regel antwortet auf die Frage:

  • Was hat das Argument mit der Behauptung zu tun?

Wenn deutlich geworden ist, welches Argument zur Behauptung führen soll – als spezielle Prämisse für die Konklusion –, lässt sich die Regel – die allgemeine Prämisse – formulieren, die beide miteinander verbindet und die Transformation der Interpretation klärt, bestenfalls als zutreffenden Syllogismus.

Mit der Regel wird die Argumentation erkennbar zur Schlussfolgerung. Die Regel ist eine „hypothetische, brückenartige Aussage“, die zeigt, ob der Schritt vom Argument beziehungsweise von den Argumenten „auf die ursprüngliche Behauptung oder Schlussfolgerung angemessen und legitim ist“.[6]

Während sich Disputanten spontan meist explizit auf die Argumente beziehen, betrachten sie die sie verbindende Regel eher selten und nutzen sie eher implizit.[7] Gleichwohl ist die Regel notwendiges Element der Argumentation – und muss in der Argumentationsanalyse explizit gemacht werden.[8]

Der Disput kann die ohnehin vorhandene Regel suchen, die das Argument mit der Behauptung so verbindet, dass eine wahre Aussage entsteht, oder in der syllogistischen Terminologie fragen:

  • Was ist die allgemeine Prämisse, um die angeführte spezielle Prämisse und Konklusion mit einander zu verknüpfen?

In der Kontroverse sucht der Hörer der Behauptung die Regel entweder allein oder gemeinsam mit dem Mitdisputanten, weil er sie braucht, um zu verstehen:

  • Welche Regel verbindet Argument und Behauptung zu einer wahren Aussage?
  • Welche allgemeine Prämisse ist Voraussetzung, damit aus der speziellen Prämisse die Konklusion zwingend zu schließen ist?
Beispiel 1:
  • Behauptung:
„Harry ist britischer Staatsbürger.“
  • Interpretation:
„Harry ist vermutlich britischer Staatsbürger.“
  • Argument:
„Harry wurde auf Bermuda geboren.“
  • Regel:
„Wer auf Bermuda geboren wird, ist britischer Staatsbürger.“

 

Beispiel 2:
  • Behauptung:
„Ich weiß zwar nicht, wo sie sind, aber ich habe zwei Arbeitsverträge.“
  • Interpretation:
„Ich habe, soweit ich mich erinnere, zwei Arbeitsverträge.“
  • Argument:
„Ich habe ja auch zwei Arbeitgeber.“
  • Regel:
„Wer zwei Arbeitgeber hat, hat zwei Arbeitsverträge.“

 

Beispiel 3:
  • Behauptung:
„Die Entscheidung muss ich in meinem Gremium besprechen.“
  • Interpretation:
„Die Entscheidung muss ich vorgeblich in meinem Gremium besprechen.“
  • Argument:
„Ich darf mich jetzt nicht festlegen.“
  • Regel:
„Wer sich nicht festlegen darf, muss Entscheidungen in seinem Gremium besprechen.“

Erst die – allgemein gehaltene – Regel zeigt den Argumentationsvorgang als Schlussfolgerung. Die Regel kann die angeführten Argumente oder Varianten legitimieren. Sie kann allerdings auch ein Argument als Behauptung auffassen und eine Variante zum Argument für sie heranziehen. Daraus würde sich eine andere Entwicklung des Disputs ergeben.

In Kontroversen bestehen die Regeln oft aus Rückgriffen auf von allen Beteiligten geteilte Auffassungen[9] oder aus Appellen an den mehr oder weniger gesunden Menschenverstand[10]. – auch wenn das unter formal-logischem Aspekt problematisch ist.

Den kommunikativen Prozess abkürzen könnte der behauptende Disputant, wenn er seine Argumentation selbst vorstellen würde.

Argumentationsbeispiel 1:

  • „Harry ist britischer Staatsbürger, denn er ist auf Bermuda geboren, und wer auf Bermuda geboren wird, ist britischer Staatsbürger.“
Argumentationsbeispiel 2:

  • „Ich weiß zwar nicht, wo sie sind, aber ich habe zwei Arbeitsverträge, denn ich habe ja auch zwei Arbeitgeber, und wer zwei Arbeitgeber hat, hat auch zwei Arbeitsverträge.“
Argumentationsbeispiel 3:

  • „Die Entscheidung muss ich in meinem Gremium besprechen, denn ich darf mich nicht festlegen, und wer sich nicht festlegen darf, muss sich mit seinem Gremium besprechen.“

Stützung für die Akzeptanz

Die zur Argumentation passende Regel ist als allgemeine Prämisse leicht zu finden, weil sie unausgesprochen in der Verknüpfung bereits vorhanden ist. Doch worauf stützt sich die Regel? Wie lässt sie sich begründen?

Falls die Regel in einer Kontroverse infrage gestellt wird, braucht sie eine explizite Stützung, die verdeutlicht, warum ihre Anwendung in der Argumentation zulässig ist.

Wer von den Disputanten auch immer die Regel formuliert, er hat drei prinzipielle Möglichkeiten, sie zu stützen, indem er sagt, wie er zu ihr gelangt ist:

  • Er nennt eine auch von den Mitdisputanten anerkannte Autorität, die ihm die Regel vermittelt hat oder der er die Akzeptanz der Regel unterstellt, oder er führt allgemein anerkannte Tatsachen oder Prinzipien an.
  • Er beruft sich auf einen auch den Mitdisputanten bekannten Text, der die Regel enthält – etwa auf ein Gesetzbuch, einen Vertrag oder ein religiöses Buch –, oder er bezieht sich auf schriftliche Normen oder Bestimmungen.
  • Er führt ein Beispiel an, das den Mitdisputanten einleuchtet und das als Analogie evident ist, oder er beschreibt zu respektierende Erfahrungen oder Bedürfnisse.

Die Stützung der Regel bekräftigt deren universellen Anspruch. Entweder ihre Allgemeingültigkeit lässt sich darlegen oder die Regel ist untauglich – zumindest in der aktuellen Argumentation.

Beispiel 1:
  • Regel:
„Wer auf Bermuda geboren wird, ist britischer Staatsbürger.“
  • Autorität:
„Diesen Zusammenhang würde Harry bestätigen.“
  • Text:
„Das steht im britischen Gesetz.“
  • Beispiel:
„Auch Peter wurde auf Bermuda geboren und ist britischer Staatsbürger.“

 

Beispiel 2:
  • Regel:
„Wer zwei Arbeitgeber hat, hat zwei Arbeitsverträge.“
  • Autorität:
„Das hat mir ein Experte der Arbeitsagentur gesagt.“
  • Text:
„Das ist im Gesetz so geregelt.“
  • Beispiel:
„Zwei meiner Freunde haben auch zwei Arbeitgeber und zwei Arbeitsverträge.“

 

Beispiel 3:
  • Regel:
„Wer sich nicht festlegen darf, muss sich mit seinem Gremium besprechen.“
  • Autorität:
„Unsere Geschäftsleitung sieht das auch so.“
  • Text:
„In einem Protokoll des Gremiums ist das so festgelegt.“
  • Beispiel:
„Ihre Kollegin verhält sich genauso.“

Die Stützung der Regel kann stillschweigend vorausgesetzt bleiben oder von einem Disputanten gefordert oder von ihm formuliert werden. Doch würde in einer Kontroverse für alle vorgebrachten Regeln eine explizite Stützung verlangt, würde in einem zeitlich begrenzten Disput die Quantität der Erklärungen zu viel Zeit beanspruchen und vernünftiges Argumentieren wäre kaum mehr möglich. Deshalb müssen in der Praxis einige Regeln, auch ohne sie zu explizieren, provisorisch akzeptiert werden.[11]

Relevante Bereiche

Sind Autorität, Text und Beispiel oder nur eines davon unstrittige Stützungen im Disput, bleiben in der sachlichen Auseinandersetzung noch zwei Aspekte zu untersuchen[12]:

  • Für welchen Bereich gilt die Stützung?
    • Gilt die Autorität auch für das kontroverse Thema als kompetent? – Die Autorität könnte zwar kompetent sein, doch für einen anderen Bereich.
    • Trifft die Aussage des Textes das kontroverse Thema? – Der Text könnte sich auf ein anderes Thema beziehen.
    • Passt das Beispiel für das kontroverse Thema? – Das Beispiel könnte zwar der Wahrheit entsprechen, aber in einer nicht vergleichbare Situation.
  • Für welche Zeit gilt die Stützung?
    • Ist die Kompetenz der Autorität aktuell? – Die Autorität könnte zwar kompetent sein, aber in einer anderen Zeit.
    • Für welche Zeit macht der Text Aussagen? – Der Text könnte durch eine neuere Version obsolet geworden sein.
    • Von wann stammt das Beispiel? – Das Beispiel könnte zwar der Wahrheit entsprechen, doch in anderem zeitlichen Kontext.

Der Hörer der Behauptung kann nach dem Geltungsbereich und der Gültigkeit fragen oder ihr Zutreffen beziehungsweise ihre Unzulässigkeit behaupten oder der Mitdisputant nennt sie von sich aus. Wenn die Stützung der Regel – als Autorität oder Text oder Beispiel – schließlich für das kontroverse Thema greift, ist die Argumentation plausibel und vernünftig.

 

Beispiel 1:
  • Regel:
„Wer auf Bermuda geboren wird, ist britischer Staatsbürger.“
  • Autorität:
„Diesen Zusammenhang würde Harry bestätigen.“
Geltungsbereich: „Harry kennt sich in Rechtsfragen aus.“
Gültigkeit: „Harrys Wissen ist auf dem aktuellen Stand.“
  • Text:
„Das steht im britischen Gesetz.“[13]
Geltungsbereich: „Das britische Gesetz gilt auch auf Bermuda.“
Gültigkeit: „Das Gesetzbuch wurde in diesem Jahr aufgelegt.“
  • Beispiel:
„Auch Peter wurde auf den Bermudas geboren und ist britischer Staatsbürger.“
Geltungsbereich: „Peter hat mir beides bestätigt.“
Gültigkeit: „Peter ist noch nicht alt.“

 

Beispiel 2:
  • Regel:
„Wer zwei Arbeitgeber hat, hat zwei Arbeitsverträge.“
  • Autorität:
„Das hat mir ein Experte der Arbeitsagentur gesagt.“
Geltungsbereich: „Er ist Experte für Arbeitsrecht.“
Gültigkeit: „Er wird von der Verwaltung kontinuierlich zu den aktuellen rechtlichen Änderungen informiert.“
  • Text:
„Das ist im Gesetz so geregelt.“
Geltungsbereich: „Das ist europäisches Recht.“
Gültigkeit: „Das Gesetz trat erst Anfang des Jahres in Kraft.“
  • Beispiel:
„Zwei meiner Freunde haben auch zwei Arbeitgeber und zwei Arbeitsverträge.“
Geltungsbereich: „Beide wohnen und arbeiten in Deutschland.“
Gültigkeit: „Sie haben ihre beiden Arbeitsverträge bereits seit vielen Jahren.“

 

Beispiel 3:
  • Regel:
„Wer sich nicht festlegen darf, muss sich mit seinem Gremium besprechen.“
  • Autorität:
„Unsere Geschäftsleitung sieht das auch so.“
Geltungsbereich: „Die Geschäftsleitung ist auch für die Gremien verantwortlich.“
Gültigkeit: „Die aktuelle Geschäftsleitung hat sich entsprechend geäußert.“
  • Text:
„In einem Protokoll des Gremiums ist das so festgelegt.“
Geltungsbereich: „Das Protokoll nennt den Beschluss des Gremiums.“
Gültigkeit: „Der Beschluss ist zurzeit gültig.“
  • Beispiel:
„Eine Kollegin verhält sich genauso.“
Geltungsbereich: „Die Kollegin hat eine vergleichbare Funktion.“
Gültigkeit: „Die Kollegin ist zurzeit Mitglied des Gremiums.“

Die Stützung erläutert die Relevanz der Regel für die Argumentation und hilft, einer logischen Falle zu entgehen.

Passendes Gegenargument

Mit der Akzeptanz oder Ablehnung der Stützung ist auch die Plausibilität der Argumentation anscheinend umfassend verifiziert oder falsifiziert. Wenn die Behauptung jetzt eine wahre Aussage zu sein scheint, kann nur ein Gegenargument die Kontroverse weiterführen und die Wahrheit der Behauptung erschüttern. Das Gegenargument richtet sich auf die Interpretation und entlarvt die Äußerung als Behauptung, wenn es die Argumentation als unzutreffend widerlegt: Entweder das Argument oder die Regel oder die Stützung wird entkräftet, mit zum Beispiel einer Ausnahme, einer widersprechenden Information oder einer logischen Schlussfolgerung, wodurch der Wahrheitsgehalt der Behauptung vielleicht nur eingeschränkt oder gar absurd wird.

Logisch gesehen ist das Gegenargument eine Exklusion, die hilft, falsche Schlussfolgerungen zu vermeiden. In der Argumentation wie in der Logik können Kleinigkeiten, wie etwa das Vertauschen der Beziehung von Aussagen, die Plausibilität des gesamten Zusammenhangs zerstören.

Beispiel für einen falschen Syllogismus:
1.  Allgemeine Voraussetzung: Alle Menschen sind sterblich.
2.  Spezielle Voraussetzung: Sokrates ist sterblich.
3.  Schluss: Sokrates ist ein Mensch.
4.  Exklusion: Der Hund meines Nachbarn heißt Sokrates.

Um ihre Anfechtbarkeit zu vermeiden oder um Gegenargumente, die sich auf die Regel beziehen, zu entkräften, lassen sich in ihr Ausnahmebedingungen formulieren, die zwar den Anspruch der Allgemeingültigkeit einschränken, jedoch die Schlussfolgerung vom Argument zur Behauptung beibehalten.[14] Ob und gegebenenfalls welche Ausnahmen zu akzeptieren sind, entscheiden die Disputanten.

Beispiel 1:
  • Interpretation:
„Harry ist vermutlich britischer Staatsbürger.“
  • Gegenargument:
„Das Territorialitätsprinzip gilt nicht, wenn beide Eltern Ausländer sind oder wenn jemand in einen anderen Staat eingebürgert wurde.“

 

Beispiel 2:
  • Interpretation:
„Ich habe, soweit ich mich erinnere, zwei Arbeitsverträge.“
  • Gegenargument:
„Unsere Haushaltshilfe hat auch zwei Arbeitgeber, jedoch keine zwei Arbeitsverträge.“

 

Beispiel 3:
  • Interpretation:
„Die Entscheidung muss ich vorgeblich in meinem Gremium besprechen.“
  • Gegenargument:
„Andere Entscheidungen mussten nicht mit dem Gremium besprochen werden.“

Auch wenn in Kontroversen die Gegenargumente sich häufiger auf die Behauptungen und ihre Argumente beziehen, können sie auch die Regel thematisieren. Wenn die Regel zum Thema der Auseinandersetzung wird, lassen sich einerseits weitere Argumente finden, auf die sich die Regel bezieht, andererseits lässt sich die Regel so variieren, dass sie vielleicht mit Ausnahmebedingungen bestehen bleiben kann und die Argumentationskette erhalten bleibt.

Das Argumentationsmodell

Die Elemente der kontro-versen Argumen-tation fügen sich zu einem Argumen-tations-modell[15] zusammen, das die logische Schlüssig.keit offenlegt, das die Variationsbreite von Kontroversen umfasst und Ideenlieferant sein kann für verfahrene Dispute.

Mit dem Argumentationsmodell lassen sich schrittweise die Elemente einer Auseinandersetzung oder auch eines Gesprächs analysieren:

  • Eine Äußerung wird als Behauptung interpretiert, die ein oder mehrere Argumente voraussetzt. Verbunden wird das Argument mit der interpretierten Behauptung durch eine Regel, die gestützt wird mit geltenden und gültigen Informationen. Die Äußerung kann mit einem Gegenargument widerlegt werden.

Das Argumentationsmodell kann jede Äußerung analysieren. Es lässt sich zur gründlichen Vorbereitung eines Disputs einsetzen oder zur Verteidigung oder zum Angriff in einer Kontroverse. Jedes Element des Argumentationsmodells lässt sich behandeln wie eine Behauptung, für das dann wiederum ein Argumentationsmodell angewandt werden kann. Das Argumentationsmodell beabsichtigt nicht Wahrheit im Sinne analytisch-formaler Ableitung[16], sondern führt zu kommunikativ bewirkter Veränderung.

Die fünf Ebenen des Argumentationsmodells:
Ebene 1

Ebene 2

Ebene 3

Ebene 4

Ebene 5

Argument, deshalb die interpretierte Behauptung

Wegen Regel

Aufgrund von Stützung

Weil geltend und gültig

Sofern nicht Gegenargument

Monologisch, etwa als Plädoyer, würde die Äußerung als These formuliert und über eine Finalkonjunktion verknüpft mit Argumenten. Die Regel mit ihrer Stützung würde expliziert und Geltungsbereich und Gültigkeit würden belegt. Gegenargumente würden in einer Einwandvorwegnahme als unzutreffend zurückgewiesen.

Peter Hilbert

Quellen

[1][6][7][14][15] Stephen Toulmin. Der Gebrauch von Argumenten
[2] Ausführlicher in „Wer fragt, der führt“
[3][11] Stephen Toulmin
[4][12] Freyr Varwig
[5][16] Karl-Heinz Göttert. Argumentation
[8] Klaus Brinker. Linguistische Textanalyse
[9] Wolfgang Klein. Argumentation und Argument
[10] Klaus Bayer. Argument und Argumentation
[13] Das Territorialitätsprinzip besagt: Wer in wessen Hoheitsgebiet geboren ist, ist im Allgemeinen dessen Staatsbürger.